Krise ist ein großes Wort. Eines, das in Organisationen schnell fällt: wenn Quartalszahlen enttäuschen, wenn Teams dysfunktional werden, wenn Mitarbeitende innerlich kündigen. Aber das, was wir oft als Krise bezeichnen, ist meist noch ein Problem – unangenehm, aber lösbar.
Eine echte Krise beginnt dort, wo das alte Denken versagt. Wo das vertraute „So machen wir das immer“ plötzlich nichts mehr bringt. Wo die bisherigen Bewältigungsstrategien ins Leere laufen.
Eine Krise ist kein Problem. Sie ist etwas anderes. Tiefer. Persönlicher. Und sie ist kein „Change light“. Sondern ein Zustand, in dem man nicht mehr zurück – aber auch noch nicht weiter kann.
Krise ist ein psychologischer Ausnahmezustand
In der Krise funktioniert die Organisation nicht mehr wie gewohnt – aber auch der Mensch nicht. Orientierung, Sicherheit, Selbstwirksamkeit: alles steht infrage. Die kognitive Welt bröckelt, das emotionale System rebelliert, der Körper fährt hoch oder schaltet ab. Und das gilt nicht nur für Einzelne, sondern systemisch: ganze Teams, ganze Unternehmen können in kollektive Überforderung kippen. Besonders dann, wenn die Führung ins Wanken gerät.
Krisen sind keine Wachstumsmomente per se. Sie können zum Wendepunkt werden. Aber sie können auch in den Untergang führen. Oder in die Chronifizierung – ein zäher Zustand ständiger Alarmbereitschaft, in dem Organisationen über Jahre hinweg nicht mehr aus dem Krisenmodus herausfinden. Entscheidungsträgheit, Sinnverlust, Beziehungserosion – all das sind Signaturen einer Krise, die sich nicht mehr ablösen lässt.
Was unterscheidet Krise von Problem?
Ein Problem verlangt nach einer Lösung. Es ist linear, greifbar, benennbar. Probleme lassen sich managen – mit Methoden, mit Expertise, mit Ressourcen. Probleme gehören zur Tagesordnung.
Eine Krise hingegen ist mehrdeutig. Sie entzieht sich der schnellen Lösung. Sie stellt das Subjekt infrage – nicht nur das Objekt. In der Krise steht nicht nur die Frage im Raum: Wie lösen wir das? Sondern: Wer sind wir, wenn das so nicht mehr funktioniert?
Krisen verlangen keine Checklisten. Sie verlangen eine neue innere Haltung. Und genau hier kommt Führung ins Spiel.
Führung in der Krise braucht Menschen mit innerem Fundament
Wer durch eine Unternehmenskrise führt, braucht mehr als Wissen. Er oder sie braucht ein psychologisches Gerüst – eines, das nicht auf Rhetorik oder Harvard-Cases basiert, sondern auf gelebter Selbstreflexion. Besonders in Gruppen. Dort, wo die eigene Geschichte, die eigenen Muster, die eigenen Ängste sichtbar werden. Dort, wo klar wird: Ich bin nicht unantastbar. Aber ich bin ansprechbar. Und dadurch handlungsfähig.
Diese innere Stärke ist nicht akademisch lehrbar. Sie entsteht in Prozessen, nicht in PowerPoint. In Resonanz mit anderen, nicht in der Einsamkeit des Chefbüros.
Was braucht es konkret?
Ambivalenzkompetenz: Die Fähigkeit, Gegensätzliches gleichzeitig zu halten – Hoffnung und Angst, Entscheidung und Zweifel, Klarheit und Nichtwissen.
Selbstklärung unter Druck: Die Bereitschaft, die eigene Führungsrolle immer wieder zu überprüfen – gerade dann, wenn man am liebsten einfach „funktionieren“ würde.
Emotionale Beweglichkeit: Nicht um cool zu bleiben, sondern um differenziert fühlen zu können. Und um andere zu führen, ohne sie zu retten.
Verantwortung ohne Allmachtsfantasie: Wer führt, kann nicht alles wissen, alles lösen, alles tragen. Aber er oder sie kann die Richtung halten – auch im Sturm.
Zwischen Pathos und Pragmatismus
„Krise als Chance“ – dieser Satz stimmt. Aber eben nicht immer. Er stimmt dann, wenn ein Mensch oder ein System Zugang zu inneren Ressourcen hat, die eine Umdeutung, ein Lernen, ein Neuausrichten ermöglichen. Fehlt dieser Zugang, wird die Krise nicht zum Wendepunkt – sondern zum Bruch.
Und genau deshalb ist es so entscheidend, dass Führungskräfte sich vorbereiten. Nicht auf die Krise – sondern auf die eigene innere Beweglichkeit in stürmischen Zeiten. Die schlechte Nachricht: Das lässt sich nicht trainieren wie ein Präsentationsseminar. Die gute Nachricht: Es lässt sich entwickeln. In echten Begegnungen, in Gruppen, in Räumen, wo die Maske kurz abgenommen werden darf – und niemand daran stirbt.
Krise ist der Moment, wo sich entscheidet, ob du führst – oder verwaltest
In der Krise zeigt sich, wer eine Organisation nicht nur strukturell, sondern existenziell führen kann. Wer nicht nur Aufgaben verteilt, sondern Sinn stiftet – auch, wenn keiner gerade welchen sieht. Wer nicht vorgibt, Antworten zu haben – sondern bereit ist, neue Fragen zu stellen. Und wer das psychologische Fundament hat, selbst dann nicht zu zerbrechen, wenn das System es tut.
Krise ist kein Geschenk. Aber sie ist ein Spiegel. Für Menschen, für Organisationen, für Führung. Und manchmal ist sie der einzige Moment, in dem echte Entwicklung möglich wird – wenn wir bereit sind, nicht sofort weiterzumachen. Sondern wirklich hinzuschauen.